Samstag, 29. August 2009

Casanova: Meine Flucht aus den Bleikammern von Venedig

Casanova. Band 7 von 21. Goldmann. Lilo Rasch-Nägele rokokoisiiert auf dem Cover. Ein Mann, das Kinn auf die rechte Hand gestützt: wohl Casanova. Dahinter ein älterer, dickerer Mann, wohl der Vater Balbi, der von Casanova rechtschaffen verachtete Vollidiot, mit dessen Hilfe ihm jene "Flucht aus den Bleikammern von Venedig" gelang, die dem Band auch den Titel gibt.

Dies ist das Kapitel aus seinem Leben, das Giacomo Casanova bereits vor seinen monumentalen Memoirenwerk schrieb und 1787, als zu Tode gelangweilter Bibliothekar auf Schloss Dux, veröffentlicht hat. An der Authentizität der atemberaubenden und oft mit Skepsis betrachteten Fluchtgeschichte duldet eins jedenfalls keinen Zweifel. Si non e vero, e bon trovato. Hinein in den Knast, die Zellen unterm Bleidach im Ostflügel des Dogenpalasts von Venedig, kommt Casanova aus mancherlei und darum auch keinem ganz klaren Grund. Freimaurerei, die Liebesaffäre mit einer Nonne, verbotene Bücher über Magie, Spielschulden vielleicht auch. Von einem Tag auf den andern, er ist dreißig, sitzt Casanova im Engen, Niedrigen, Stickigen, Dunklen und Verschlossenen und weiß nicht, ob er je wieder rauskommt.

Er ist die meiste Zeit allein, einmal erwacht er und stößt beim Herumtapsen auf eine eiskalte fremde Hand. Es dauert, bis er begreift, dass es seine eigene ist: So wird einer in einer prägnanten Szene sich selber ein Fremder. Und so wird er, schreibt Casanova, zum Denker. Lange bleibt er allein. Er liest, die Vergünstigung wird ihm nach einer Weile gewährt, Bücher. Unter anderem von Boetius den "Trost der Philosophie". Einmal bebt die Erde, kurz hofft er, der Palast stürze vielleicht ein. In Wahrheit zittert hier ein epochales Ereignis in Casanovas Dunkelkammer hinein: "Dieses Erdbeben hing mit dem großen Erdbeben zusammen, durch das zu gleicher Zeit Lissabon zerstört wurde."

Unter Casanovas Blick wird der Bleikammerknast freilich eher zur hellen Kammer, in der er die eigene Zeit in scharf umrissenen Aufnahmen festhält. Denn er bleibt nicht die ganze Zeit allein, andere Gefangene werden ihm für kurze Zeit zugesellt. Ein junger Diener, der die Tochter des Herrn verführt hat: dem kann Giacomo, wie sich von selbst versteht, seine Sympathien nicht verweigern. Anders bei einem Spion, dem er, sehr zu recht, jeden Verrat zutraut. Anders auch als beim Mann, der es auf den Titel geschafft hat: Vater Balbi, ein törichter Mann vieler, aber durchweg selbst noch mittelmäßiger Laster, den Casanova mit manipulativem Geschick zum Fluchthelfer macht und nach gelungener Flucht fast nicht mehr loswird.

Wie überhaupt auch in diesem Memoiren-Kapitel, in dem es um die Verführung von Frauen nur ganz am Rande gelegentlich geht, Casanova als großer und raffinierter Manipulator erst recht kenntlich wird; als einer, der die Schwächen der Mitmenschen blitzschnell erkennt und, bei gleichzeitiger Verachtung des andern, für sich zu nutzen versteht. Als Erzähler aber ist er eine ehrliche Haut und leugnet das eine - die Verachtung - wie das andere - die Manipulation - nicht. Die dazu passende Moral zimmert er als Impromptu mal so und mal so. Was sich durchhält: Er ist der, der immer davonkommt.

Schmerz und Gefahr nimmt Casanova auf sich für die Flucht aus dem Kerker. Blutig schindet er sich beim Schnitzen eines scharfen Meißels. Er gräbt ein Loch in den Boden und am Vorabend seiner geplanten Flucht wird er in eine andere Zelle verlegt, mit Blick auf den Lido. (Eine der Stellen, von denen man annehmen darf, dass der Autor der Wirklichkeit hier dramaturgisch ein bisschen aufhalf.) Balbi gräbt dann die Löcher für ihn. Dem Zellengenossen erzählt Casanova erheiternden Blödsinn von der zu erwartenden Ankunft eines Engels. Die Fliehenden steigen durchs Dach - ich lese bei Wikipedia: Reparaturarbeiten am Dogenpalastdach sind schriftlich verbürgt, der wohl stärkste Hinweis auf die Authentizität von Casanovas Bericht. Das Abseilen gelingt nicht, also steigen sie am anderen Ort durchs Dach wieder ein in den Palast. Warten vor verschlossener Tür. Und können entweichen, als ein Palastbediensteter diese ahnungslos öffnet. Auf nach München. Dann Paris. Abenteuer warten und mein Band ist aus.

Montag, 24. August 2009

Georgette Heyer: The Grand Sophy

Ich bin selber schuld. Im letzten Posting zu Johannes Mario Simmel hatte ich geschrieben, das Cover sehe aus wie das zu einem Georgette-Heyer-Roman. Zur Strafe habe ich nun einen ebensolchen an mich genommen. Das Cover sieht freilich völlig anders aus. Meine Vorstellung von Georgette-Heyer-Titelbildern war grundfalsch. Das hier ist gemalt, man sieht eine brünette Frau im Hermelin. Ein Muff für die Hände, ein Muff auf dem Kopf (nein, das ist ein Hut). Im Hintergrund ein Mann, der einen Rappen mit Blesse am Halfter hält. Darüber ist ein hässlicher lilaner Himmel zu sehen. Das Buch heißt "The Grand Sophy" und ist eine "Regency Love Story" in "Large-Type Edition". Also etwas für ältere Semester. 1950 erstmals erschienen.

Auch von Georgette Heyer hatte ich nie zuvor etwas gelesen. Sie schrieb neben Romanzen wie diesen auch Krimis. Sie war offenkundig in die Zeit um 1800 vernarrt, mit einigem Spielraum um diese Marke nach vorne und hinten. Ebenfalls vernarrt war sie, das merkt man gleich, in Jane Austen. Deren Romane zu imitieren: dahin geht all ihr Sinnen. Sie tut darum in ihren eigenen Sätzen und ihren Dialogen geistreich, aber geistreich auf sehr aufgeplusterte Art. Man sieht ihre Figuren immer übertriebene Gesten vollführen. Sie sind affektiert prüde, affektiert sittenstreng, sie führen, was sie sein sollen, immer gleich vor.

Der erste Satz ist ganz und gar typisch. Klingt beim flüchtigen Hinhören Regency-echt, ist aber, wenn man dagegenklopft, merklich aus Gips: "The butler, recognizing her ladyship's only surviving brother at a glance, as he afterward informed his less percipient subordinates, favored Sir Horace with a low bow, and took it upon himself to say that my lady, although not at home to less nearly connected persons, would be happy to see him." Irgendwie seh ich da Hans-Joachim Kulenkampffs Faux-Butler Martin Jente vor mir, der dem Meister mit freundlicher Umständlichkeit Mantel, Schirm, Schal und Hut reicht.

Die Geschichte, die sich auf den ersten 65 Seiten, die ich das durchgehalten habe, anbahnt, ist diese: Eine burschikose junge Frau namens Sophy wird von ihrem Vater bei ihrer Tante zurückgelassen. (Er begibt sich in ein Weitweg mit dem Namen Brasilien.) Bevor die ungestüme Frau mit ihrem Affen aber auftaucht, wird erstmal das langweilige Nest erzählerisch bereitet, in das sie dann Unruhe und Aufregung und wohl das, was man Leben nennt, bringt. Ein steifer Cousin dräut, wie der Mann auf dem Titel mit Pferd, im Hintergrund. Er bekommt dann wohl von der Sophy Schläge auf das Brett vor seinem Kopf.

Nun ist Jane Austen ja sehr subtil. Georgette Heyer ist es nicht. Und es gibt eins, das selbst an Austens famosen Romanen heute etwas schwer erträglich ist: Geheiratet werden muss. Was bei Austen Abbild einer Gesellschaft war, in der Unverheiratete wie Jane Austen heikle Heiratsfantasien ersannen, ist hier zum Genre (Romance) runtergekommen. Und darin exemplarisch gerade, weil es, im eigenen Rahmen, sehr gekonnt gemacht ist: Was als Darstellung bei Austen seine Wurzel in genauer Gesellschaftsbeobachtung hatte, ist nur mehr leere, mit nichts in seiner Zeit mehr verbundene Form. Gipsfiguren werden vor den Augen der Leserschaft über die Bühne einer Ausstattungsoper geschoben. Gefühle werden erwartet, von mir aber ganz sicher nicht gehabt.

Sonntag, 2. August 2009

Johannes Mario Simmel: Die Antwort kennt nur der Wind

Äh, habe ich das Mansfield-Cover hässlich genannt? Großes Sorry, richtig hässlich ist was anderes. Richtig hässlich ist das Cover zur Knaur-Taschenbuchausgabe, 151. - 165. Tausend Februar 1980, von Johannes Mario Simmels Roman "Die Antwort kennt nur der Wind". Keines der legendären Nur-Schrift-Schreibschrift-Hardcover-Cover in fett und bunt. Die hatten ja irgendwie was. Das hier dagegen ist mehr wie Georgette Heyer. Oder jedenfalls wie ich mir Georgette-Heyer-Cover vorstelle. (Ich habe gegoogelt: Die sehen ganz anders aus.) Also, der Simmel hier: Namenszug hässliche Schrifttype rot, Titel selbe hässliche Schrifttype blasslila, Genrezuordnung (Roman) und Verlag (Knaur) immer noch selbe Schrifttype mattrosa. Damit ist der Titel aber noch nicht voll. Im unteren Drittel sitzen, Stirn an Stirn, grafisch freigestellt, ein dunkelblonder Mann und eine blonde Frau in der nicht zu sehenden Abendsonne. Ihre Bluse, weiß, hat Rüschen. Sein rechter Arm ist abgeschnitten, vom unteren Buchrand. Ihre linke Hand greift nach der Knopfleiste seines Hemds. Ineinander versunken sehen sie aus.

Richtig gaga ist der Klappentext auf dem Rücken des Bandes. Er ist klein, lang, sans-serif-nüchtern. Da hat einer was zu sagen, so viel ist klar. Ich zitiere nur die ersten beiden Sätze: "Johannes Mario Simmel hat in jedem seiner Bücher ein heißes Eisen angepackt. Diesmal ist er direkt ins Feuer gesprungen - hinein in eine Hölle von Gewissenlosigkeit, Gemeinheit und Gewalttat." Meine Herren. Ein Höllensprung - und wo landet der Mann: Mitten in erstens Metaphern und Alliterationen und zweitens den verbrecherischsten Finanzweltspekulationen. Und geografisch: An der Cote d'Azur. Oder, kurz gefasst: "Rätselhaftes und Unheimliches, aber auch das Wunder der übermächtigen Liebe zweier Menschen geschieht in der paradiesisch schönen Landschaft der Cote d'Azur, in den Luxus-Residenzen der Milliardäre, auf Hochsee-Jachten, in exklusiven Hotels, auf prunkvollen Galas und in den Spielsälen der Casinos."

Das Wunder, das in der Straßenverkehrslandschaft des Mehringdamms geschah: Ich habe meinen ersten Simmel gelesen. Gut, nicht bis zum Schluss, aber immerhin bis Seite 160, zum Ende des Ersten Buchs. Das ist schon ein Ding: Ich hab in meinem Leben wirklich jeden Scheiß verschlungen, aber Simmel bis gestern und heute: niemals. Durchaus erinnere ich mich an literarkritische Nobilitierungsversuche irgendwann in den späten, schätze ich, Achtziger Jahren. Da wurde der Mann zwar auch nicht für literarisches Können, aber doch fürs rasche Aufgreifen heißer Eisen und das rasche Schmieden vorliegender Eisen mit erfreulich gesellschaftskritischem Linksdrall gelobt. Zur Lektüre aufraffen konnte und/oder wollte ich mich damals jedoch nicht.

Und es ist wahr: Einen Drall, der sich als links und gesellschaftskritisch versteht, den hat das. Dialoge wie dieser lassen an Eindeutigkeit der Selbstverortung zu wünschen wahrhaftig nichts übrig: "'Es interessiert mich sogar sehr, Monsieur Lucas. Ich bin Sozialistin. Ich nehme an, Sie sind Sozialist.' 'Natürlich', sagte ich. 'Was kann man heute noch anderes sein, wenn man kein Idiot ist.'" Rhetorische Frage. Simmels Antwort: Ein verbrecherischer Zyniker natürlich. Einer von jenen 'zweieinhalb Prozent der Bevölkerung in Amerika zum Beispiel', die 'zwei Drittel der Wirtschaft kontrollieren. Alles, alles, auch eine Inflation, macht sie noch reicher - und alle anderen Menschen immer ärmer und ärmer." Das ist, in den groben Zügen, die ihm selbst ganz und gar eigen sind, das Weltbild des Johannes Mario Simmel.

Und es ist der große Rahmen des Buches. Sein Held, Monsieur Lucas, todunglücklich verheiratet, herzkrank, sterblich sich verliebend in Cannes in die Malerin Angela Delapierre, reist als Agent einer Versicherungsgesellschaft mit dem sprechenden Namen "Global" nach Südfrankreich. Eine Jacht flog in die Luft, zwölf Tote, dahinter steht eine multinationale Devisenspektulation, deren Details sich, da erst im Zweiten Buch enthüllt, meiner Kenntnis entziehen. Siebzig jenseits des Steuerzugriffs marodierende Milliarden sind im Spiel. Das Pfund wird entwertet. Die Gesetze versagen. In Cannes wird gemordet. Und in Düsseldorf begeht eine Rentnerin Selbstmord, weil sie sich den Platz im Altenheim nicht leisten kann. Das Große aus der Perspektive des kleinen Mannes bzw. der alten Frau zu betrachten: das ist Simmels erfolgversprechend komplexitätsreduzierende Masche.

Umgehaun hat mich, vom Prolog an, die jedes Wort, jeden Satz, jeden Gedanken, jede Bewegung des Plots, jede Figurenbeschreibung instantan ins literarische Nirvana befördernde Trivialität. Dabei ist gerade der Prolog immerhin angenehm delirant. Da geht sehr schön alles was folgt schon mal wild durcheinander. Die Intrige, eine Erpressung, die alte Frau aus der Apotheke, die übermächtige Liebe. Was daran liegt, dass hier ausgerechnet der Ich-Erzähler stirbt, und zwar mit den folgenden letzten Worten: "Dann war ich tot." Klingt experimentell, ist aber - ich habe zum Schluss geblättert, shame on me - alles Quatsch. (Was nicht heißt, Spoilerwarnung, dass Monsieur Lucas am Ende nicht tatsächlich tot wäre. Aber auf anderem Wege.)

Als, ich belasse es bei diesem einen Beispiel der Simmelschen "Beschreibungsimpotenz" (Handke) , der Held der Frau, die er dann lieben muss, erstmals ansichtig wird, ist er hin und weg und gibt diesem Zustand Ausdruck, indem er ihr "schmales Gesicht mit einem schön geschwungenen Mund", ihren "sehr schönen Körper" und ihre "vollendet schönen Zähne" lobt. Wer die Schönheit angeschaut mit Phrasen... Freilich war Simmel für seine sexuelle "Beschreibungsimpotenzkompensationspotenz" (Marquard) berüchtigt. Hier tritt sie erst einmal an seltsamer Stelle auf, in der Praxis eines Arztes etwa, der immerzu einen Phallus auf seinem Schreibtisch streichelt. (Manchmal bin ich kurz davor gewesen, Simmel fast ein bisschen zu lieben für solche Gaga-Ideen. Ganz selten kippt die Trivialdeliranz nämlich in etwas schwer zu beschreibendes anderes und im doppelten Sinn Tolles. Nichts, das mit "camp" (Sontag) zu tun hätte. Eher jene Art Irrsinn, die mich verstehen lässt, warum Dominik Graf so gerne Simmel verfilmen möchte.)

Insgesamt hilft's aber nichts. Die große Welt, die man hier kennenlernt, ist eine ganz schön erbärmliche Kleinbürgerfantasieausgeburt. Nicht mal in den Verwicklungen des Plots liegt die mindeste kriminalliterarische Raffinesse. Jetzt gib dir doch mal ein bisschen Mühe, Johannes Mario! Denkt man. Das wirkt alles so schnell runtergeschrieben, wie es vermutlich auch ist. Das ist, vor internationalem Niveau betrachtet, sogar nur Thrillerersatzersatzliteratur. In krakeliger Altfrauenschrift steht eine Widmung in diesem hässlichen Buch:

Lieber Gottfried, liebe Ursula dies als kleines Dankeschön für Eure Gastfreundschaft. Eure Ingeborg.

P.S.: Trivia. Das Wort Popcorn wird bei der ersten Verwendung als Puffmais ins Deutsche übersetzt. (Übrigens: Der den Puffmais in sich schlingende schweinehässlich-gefräßige Deutsche könnte als Typus glatt aus Katherine Mansfield Buch hier rüber geraten sein.) Und: Eine Telefonverbindung von Cannes nach Düsseldorf kann - an einer Stelle jedenfalls - nicht direkt hergestellt werden. Man muss sie anmelden und Stunden darauf warten.


Samstag, 1. August 2009

Katherine Mansfield: In einer deutschen Pension

Ein hässliches Buch. KiWi, 1982 erschienen. Ob das mal rosa war? Der Baum drauf, unten mittig, das Logo, ist grün. Die Schrift ist eine geschwungene, aber viel zu regelmäßige und auch zu verschnörkelte Schreibschrift. Eine Illustration gibt es nicht, der Umschlag ist verfärbt, und zwar so, dass man ihm ansieht: Es stand einmal ein kleineres Buch, während die Sonne schien, neben diesem auch nicht sehr großen. Was möglicherweise immer schon so ein blässliches Rosa war, wird nun von einem graugelben Rand gesäumt, der bei näherer Betrachtung mit der Farbe meines Schreibtischs beinah identisch ist.

Hinten drauf blickt Katherine Mansfield auf einem monochrom blauen Foto der Leserin und dem Leser sehr ernst ins Gesicht. Sie ist früh gestorben, das weiß man, darum, denkt man, hat sie immer schon ernst geblickt. Was für ein Blödsinn das ist, merkt man spätestens bei der Lektüre dieser teils hinreißend bösartig komischen Erzählungen, die das sind, was man die Verarbeitung eigenen Erlebens nennt. Das eigene Erleben war eine Kur in Wörrishofen, die Mansfield macht, als sie gerade mal 21 war. Was sie schildert, ist also, wie sie unter die Deutschen fiel. Es ergibt sich das Sittenbild einer Nation, aus der man nachträglich noch, wenn man das liest, nur möglichst schnell reißaus nehmen will.

Nicht alle der acht Erzählungen, die ich gelesen habe (bis "Das Luftbad") haben dieselbe, als Mansfield-Stand-In auszumachende Ich-Erzählerin, sehr wohl aber die meisten. Der Blick dieser jungen Frau auf ihr Umfeld, auf die Hölle, die die anderen sind, ist scharf und bitter und ganz und gar gnadenlos. Als erstes tritt auf ein Herr Rat, in einem Text, der heißt: "Deutsche beim Fleisch". Ganz richtig. Nichts ist ekliger als Deutsche, die essen wie Schweine. Ich erinnere mich an eine Szene in Helmut Käutners Verfilmung von Alfred Anderschs Roman "Die Rote". Darin tritt als fressende deutsche Sau Gert Fröbe auf, unvergesslich. Was muss sie gelitten haben! (Mansfield jetzt.) Und wie süß ist die Rache, mit Kartoffeln und Rindfleisch serviert. (Allerdings in Übersetzung sehr verspätet, nach siebzig Jahren.) Diese Deutschen sind, was immer sie treiben, die Pest. Einer etwa hat bei Tisch einen - was durchaus zur Sache tut, mit München zusammenhängenden - Gedanken: "Der Gedanke regte ihn an, sich Hals und Gesicht mit der Serviette abzuwischen und sich sorgfältig die Ohren zu reinigen." So sind sie eigentlich alle: Sie tun Widerliches und denken sich, was vielleicht das noch Schlimmere ist, rein gar nichts dabei. "Der Baron" in der nächsten Erzählung ist einer, der sich immer abseits hält und nie etwas sagt. Am Ende stellt die Erzählerin ihn doch zur Rede. Er könne so, verkündet er (stolz!), ungestört immer zwei Portionen verdrücken.

Außerhalb, abseits ist dies Ich. Wird gestört, schießt Giftpfeile - adressiert ans Erzählpersonal, mehr noch an die Leserschaft -, blickt sehr genau hin und konfrontiert ein ums andere Mal das Hochtrabende, wenn nicht Heilige mit dem Profanen. Eine Szene, sie liest etwas über Lourdes: "'...Es war ein einfaches Hirtenmädchen, das auf dem kahlen Feld die Herde weidete...' Stimme aus dem Zimmer oben: 'Der Waschständer ist natürlich mit Seifenwasser abgeschrubbt worden.'" Simple satirische Technik, immer wieder brillant eingesetzt. Dazwischen sexistischer Unfug, von Männern geredet, deren Frauen ans Widersprechen nicht denken.

Nichts entfaltet sich in den Texten. Mansfield setzt Figuren in Szenen vor Augen. Die Charaktere entwickeln sich nicht, haben nicht mehr als zwei Dimensionen, sind Karikaturen, ich sehe Daumier-Umrisse vor mir. Ungefähr sowas:


Ein wenig mehr psychologisches Fleisch auf den Rippen haben die Erzählungen, die aus dem Kurhaus ausbrechen und die - relative - Neutralität der dritten Person suchen. "Frau Brechenmacher nimmt an einer Hochzeit teil" ist eine davon. Hier bleibt der Ekel, den die Titelheldin angesichts ihres Mannes empfindet, unterschwelliger und umso bedrückender. Der Mangel an Zentralerspektive tut auch dem Blick auf die Hochzeitsgesellschaft gut. Sie scheint prismatischer aufgefächert, als würde schneller und desorientierender die Blickrichtung gewechselt. (Keineswegs ist das im Ergebnis minder böse. Nur zu mehreren Stimmen gesetzt.)

Der Kontrast ist in "Bei Lehmanns" wohl am stärksten. Eines nämlich ist die Erzählerin der anderen Text ganz sicher nicht: unschuldig. Sie konfrontiert das Verfressen-Selbstgefällig-Dröge der Deutschen mit der Überlegenheit derjenigen, die die Dinge beim Namen nennt. Ihr Spott zerstört das Aufgeblasene nicht durch Naivität, sondern durch eine aufgeklärte matter-of-factness, durch einen Blick, der eher dem einer Zoo-Besucherin gleicht, die in ein Gehege mit zwar widerlichen, allerdings (für die Besucherin jedenfalls) ungefährlichen Tieren geraten ist - und hinterher davon, gerettet, ihresgleichen berichtet. Und zwar, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Um Sex geht es, wenn es um Sex geht, mehr als nur ungefähr. Am Ende von "Die moderen Seele" gehen ein schnösliger Professor und eine eingebildete Schauspielerin auf einen Tagesausflug in den Wald. Das mindeste, was der Erzählerin dazu einfällt: "Ich hatte so meine Gedanken."

Anders ist Sabina, die Heldin von "Bei Lehmanns". Sie ist die Unschuld und damit auch die Verführbarkeit selbst. In einer Konditorei arbeitet sie und wird ausgenutzt, verkauft Schokoladenkuchen und Zuckermandeln, während oben Frau Lehmann Geräusche macht: hochschwanger und vom Ehemann, der sie unappetitlich findet, weggesperrt. In die Konditorei kommt ein Junger Mann, der einfach nur Junger Mann genannt wird. Wir sind hier im Typischen. Unschuld trifft auf Verführer. Verführer liest Buch und zeigt Unschuld ein Bild darin: Nackte Schönheit auf Bett. Könnten Sie sich nicht vorstellen, fragt er... Sabina, die gerne wüsste, aber nicht weiß, was Männer mit dem Kriegen von Kindern zu tun haben, möchte nicht. Und ist, verführbare Unschuld, doch versucht. Sie geht mit dem Jungen Mann nach hinten. Es kommt zum Kuss und wer weiß, was passierte, käme nicht in diesem Moment unter großem Geschrei oben ein Mensch auf die Welt.

Donnerstag, 23. Juli 2009

Delphin Reiseführer: Besser Reisen

Eines dieser Bücher mit Jeans-Cover. Es ist von 1979, in den Achtzigern war das aber immer noch der letzte Schrei, glaube ich mich zu erinnern. Autor dieses Bandes ist ein Ethnologe namens Thomas Diethelm. Im Netz findet man einen Herrn gleichen Namens, der Musik macht - und in den Siebziger, schreibt er in seiner Biografie, mit Christoph Marthaler, dem damals ganz und gar unberühmten, gaukelnd und musizierend durch die Gegend zog. Ob es derselbe ist, der dieses Buch mit Reisetipps für Globetrotter verfasst hat, ist auf die Schnelle nicht zu ergründen. Schweizer jedenfalls sind sie beide.

Was ich aus dem Buch gelernt habe:

1) Ein richtig gepackter Rucksack wiegt nur halb so viel wie ein falsch gepackter.
2) "Etwas vom Wichtigsten am Rucksack ist der Hüfttragegurt."
3) Es gibt im wesentlichen drei Kammersysteme für Schlafsäcke. (Kalte Nähte: nicht zu empfehlen; Box-Kammersystem; V-Kammersystem: bestes System)
4) Je nördlicher das Herkunftsland der Daune, desto besser ist sie.
5) Ein Paar Badesandalen sind superwichtig!
6) Spanische Lederflaschen nehmen weniger Platz weg als Kunststoff-Wasserflaschen.
7) Reisen Sie entweder alleine oder zu zweit. Von Trips zu dritt ist abzuraten!
8) Autostoppen: Nachdem man eingestiegen ist, öffnet man unter dem Vorwand, dass die Jacke eingeklemmt ist, immer noch einmal die Tür, um sich für den Fall der Fälle mit dem Türmechanismus vertraut zu machen.
9) Die meisten Autofahrer haben fast krankhafte Angst vor Schmutz auf ihren Polstern.
10) Polen ist ein Paradies für Autostopper! In Reisebüros und an Grenzübergängen erhalten Tramper Autostop-Coupons. Die geben sie dem Fahrer. Am Endes Jahres können alle Fahrer mit ihren Coupons an einer Verlosung teilnehmen.
11) In der BRD (ohne Berlin) gibt es sechs Mitfahrzentralen.
12) Interrail: 1972 kostete der Pass noch DM 210.-, 1975 bereits DM 290.- und 1979 sogar DM 360.-!
13) Bei schlechten Straßenverhältnissen ist es besser, im Bus so weit vorne wie möglich zu sitzen.
14) Bei starkem Wellengang sind Kabinen in der Schiffsmitte am ruhigsten.
15) Wenn Sie gegenüber Wanzen Vorbehalte haben, sollten Sie das Bett nach solchen 'Mitbewohnern' absuche.
16) So heißt Jugendherberge auf Portugiesisch: Pousada.
17) So gibt's beispielsweise für Jugendherbergsbenützer in Großstädten praktisch kein Nachtleben, denn bevor es noch richtig beginnt, werden Herbergspforten verriegelt. (In der Schweiz und Bayern schon um 22 Uhr!)
18) In den meisten großen Kaufhäusern ißt man in der Regel noch günstiger als in den Kettenrestaurants wie McDonald's oder Wimpy.
19) Bemerkungen wie special price for you sind Bauernfängerei.
20) Gratis-Tip: Wenn Sie sich unter eine ausländische Reisegruppe mischen, können Sie sich sehr oft das Eintrittsgeld (z.B. in ein Museum) ersparen.
21) Schwarzweißfilme sind natürlich viel billiger als Farbfilme und haben noche eine Reihe anderer Vorteile: Sie sind weniger hitzeempfindlich, und bei einer entsprechenden Entwicklung können sie bis 40 DIN belichtet werden.
22) Faustregel: Überlegen Sie sich, wie viele Filme Sie brauchen, und nehmen Sie dann doppelt so viel mit.
23) Der Horizont muß entweder in der oberen oder unteren Bildhälfte sein; niemals darf er durch die Bildmitte gehen.
24) Vergessen Sie bei Landschaftsaufnahmen den Vordergrund nicht, sonst wirkt die Aufnahme langweilig.
25) Das Fotografieren von Einheimischen ist eine heikle Sache und verlangt viel Takt und Fingerspitzengefühl.
26) Bleiben Sie unter allen Umständen höflich im Umgang mit den Behörden.
27) Nordamerika. An den Toiletten-Türen kann stehen:
Men/Women
Ladies/Gentlemen
Powder Room
Comfort Room
28) Lateinamerika: Toiletten werden excusado, retrete, urinario, sanitario, inodorno und auf Portugiesisch auch banheiro genannt.
29) Asien: Man muss sich darüber im klaren sein, daß man bei Benutzung einer Fremdsprache in den meisten Ländern nur mti der gebildeten Oberschicht und mit den im Tourismus Beschäftigten in Berührung kommt.
30) Afrika: Den höchsten Kurs erzielt in allen afrikanischen Ländern die Währung der ehemaligen Kolonialmacht.
31) Übrigens: Unser Autostop-Handzeichen bedeutet in Afrika "fuck off" (Geh zum Teufel!). Statt dessen stoppen die Afrikaner Fahrzeuge, indem sie mit der Hand vertikal winken.
32) Australien: June Leute, die aus asiatischen Ländern einreisen, werden von den australischen Zollbeamten sehr sorgfältig auf Drogen untersucht.

Johannes Bobrowski: Erzählungen

Band aus der Ost-Reclam-Universalbibliothek. Ich mag diese Bücher. Schlicht, nur schwarz, nur weiß (und gelblich grau: das Papier), nur Schrift. Und hinten drauf steht DDR 1,50 M. Auf diesem jedenfalls. Wie in DDR-Büchern üblich: Das Inhaltsverzeichnis hinten; ich weiß nicht, welcher Tradition oder welchem Zufall oder welchem Tradition gewordenen Zufall sich diese Differenz verdankt. Ein Nachwort gibt es, von Bernd Leistner. Ich kenne den Namen nicht, aber das Nachwort ist zwar - wie in DDR-Nachworten üblich - so verschlüsselt, dass man auf kein einziges Wort seinen Fuß setzen zu können glaubt, ohne dabei einzubrechen; es ist auch in einem hohen Ton gehalten, in dem Bürokratisches und Hochgeistiges seltsam vermischt sind. Und doch scheint es mir nicht ideologisch verdummt. Leistner, lese ich in der Wikipedia, hat in Chemnitz noch bis 2004 einen Lehrstuhl für Literaturwissenschaft innegehabt.

Andererseits steht im Nachwort auch der folgende Satz: "Von einer solchermaßen gefestigten Position aus wird dann auch, 1964, die Geschichte des Poeten Boehlendorff erzählt, eine Geschichte, die, klar historisiert, als ein nachdenklich stimmendes Exempel einem Publikum mitgeteilt wird, dessen Ansprechbarkeit keinem Zweifel ausgesetzt erscheint und dem sich der souverän hervortretende Gegenwartserzähler vertrauensvoll und auffordernd zugleich zuwendet."

***

"Boehlendorff" ist die erste Geschichte des Bandes. Wobei man sich durchweg fragt, ob das, was hier "Erzählung" heißt, wirklich "Erzählung" ist und wirklich "Geschichte" im Sinne von "tale". Denn ein Erzähler im engeren Sinn ist der Lyriker Bobrowski nicht. Das ist nicht abwertend gemeint, denn es sind teils ganz großartige Texte, die ich hier gelesen habe. (Bis zu "Brief aus Amerika", Seite 50.) Wenn einer "souverän hervortretender Gegenwartserzähler" sagt, stelle ich mir aber etwas ganz anderes vor als die szenische Installation, als die ich "Boehlendorff" lese. Deren erster Satz lautet: "Auf diesem ungewöhnlichen Weg." Ganz richtig: Punkt. Eine Szenenanweisung, die ein Zitat ist, aus einer Anzeige des Kasimir Anton Ulrich Boehlendorff, den es wirklich gab. Ein Dichter, der nicht ins Gebirg ging, sondern in seine östliche Heimat zurückkehrte. Und im Mitauer Intelligenzblatt um Geld, einen "Kreditbrief über einhundert Taler" genau gesagt, bettelte.

Ihn lässt die Erzählung, in Szenen, in Fetzen, in Dialogen, in Wiederholungsschleifen ("Zählen zählt alles") erst elend leben, dann sterben. An "Lenz" muss man denken. Namen sind wichtig. Leute, denen er begegnet, historisch verbürgt allesamt, denkt man. Alles ganz genau lokalisiert und situiert, aber wie ein Geist geht Boehlendorff durch diese Welt, wie ein Geist, dessen Bewegung Bobrowski vom ersten Satz an einschreibt: Sie wird enden. Boehlendorff war ein Dichter, Autor von Dramen, anderen Texten, nicht aufgeführt, ohne Erfolg. Er zog aus, die Welt zu erobern und kehrt, da erwischt ihn Bobrowski ("nachdenklich stimmendes Exempel"), gescheitert zurück. Er hofmeistert herum, wird angesprochen, scheint in diesem Text, der mit seinen dreizehn Seiten einer der längsten im Buch ist, nicht mehr antworten zu können. Das Schweigen des Boehlendorff liegt über den Fetzen, den Namen, dem Gehen, dem Gesagten.

In "Junger Herr am Fenster" erhängt sich Schopenhauers Vater, was ich aber nur begreife, weil der Kommentar - ein kleiner Apparat am Ende des Buchs - es verrät. Ganz kurzer Text, eine Einkreisbewegung, oder eher: ein Vor und Zurück wie ein Kamerazoom, auf den Giebel, auf den der Ich-Erzähler, der also Schopenhauer ist oder wäre, wieder und wieder, vor- und zurückkommt.

Eine Szene, die sich mit Welt und Geschichte füllt, schildert "D.B.H." Die Initialen stehen für Dietrich Buxtehude, den Komponisten. Er steht "hinter dem Prospekt, mitten in seiner Orgel". Von hier denkt er, nach vorne, er denkt auch zurück. Bewegung auf der Szene als Prinzip des Bobrowskischen Erzählens: darum wahrscheinlich diese Assoziation mit dem Installativen; etwas, einer wird da hingesetzt, hingestellt und der großartigen Sprache Bobrowskis überlassen. Einer Sprache, die in kurzen, aber nicht hektischen Rhythmen Landschaften entwirft, szenisch. Aus den Konkretionsreihen entsteht ein rhythmisiertes Bild aus Fragmenten; es schließt sich nicht.

Ein paar Worte zu "Epitaph für Pinnau" noch. Fast etwas wie ein Musterbeispiel von Ekphrasis; ein Gemälde, das zu Leben erweckt wird. Tischgesellschaft bei Kant, in Königsberg. Hamann ist zu Besuch. Aber am Anfang nähert sich erst etwas, man wird in die "Erzählung", die eine Inszenierung ist, hineingeführt wie von einer Assistenzfigur in der Malerei. Oder, man muss genauer sein: Erst wird das Bild gemalt: "Vor Kants Haus steht kein Baum." Dann kommt Ton dazu. Und die Assistenzfigur ist rein akustisch. Das sind "Stöcke", die man, sich nähernd, beinahe wirklich hört, über eine London- und eine Swedenborg-Assoziation hinweg hört. Oder vielleicht, weil sich der Text hier gleich für eine Assoziation öffnet, lässt sich auch das Hören der Stöcke ungenannter sich nähernder Personen so leicht herbeiassoziieren: "Aber jetzt nähern sich die ungeduldigen Stöcke und werden zu laut. Es ist eine Plage mit den Stöcken." Ungeduldig sind sie. Erlebt, denkt man ist die Rede. Er ist unklar, wer hier spricht. Vielleicht Kant. Und: Es hat sich schon wieder einer erschossen. Pinnau diesmal. Ein Epitaph für ihn ist diese Erzählung.

Freitag, 17. Juli 2009

W. Somerset Maugham: Lord Mountdrago

Das Buch ist angeschlagen, abgewetzt an der Rückseite, geknickt vorne und hinten. Vorne drauf sieht man vor dunkeltürkisem Hintergrund eine schwarze Brücke, auf der ein schwarzer Zug fährt, der dunklen, vom Schwarzen ins Türkise nach oben ausdünnenden Rauch ausstößt, der nach hinten zu aufquillt. Außerdem fallen von der Brücke oder aus dem Zug weiße Blätter zu Boden.

In einem Blurb auf der Rückseite wird der Spiegel zitiert, der Maugham für die eigene Avantgardefeindlichkeit vereinnahmt: "An diesem Überbleibsel aus einer Zeit, da 'Geschichtenerzählen' und 'Literatur', da 'Kunst' und 'Unterhaltung noch nicht geschiedene Begriffe waren, bleibt beispielhaft: die nie ermüdende Lebensneugier des Schriftstellers und einstigen Arztes Maugham - Exempel für heutige Literatur-Bastler, die ihre Unlust oder Unfähigkeit, Mitmenschen zu schildern, als Avantgardismus verklären."

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In der ersten Erzählung, "Der Mann mit der Narbe", wird ein nicaraguanischer Revolutionär nicht hingerichtet, weil er die Frau, die er liebt, am Tag, an dem er sterben soll, tötet. Die Narbe des Titels ist ein Witz. Sie scheint das Geheimnis des Mannes zu sein, der dem Ich-Erzähler als heruntergekommener Lotterielosverkäufer begegnet. Es ist daran nichts mysteriös. "Ach, die hat er sich geholt, als einmal eine Flasche explodierte, die er gerade öffnen wollte. Es war eine Flasche Ingwerbier." "Ingwerbier? Habe ich nie gemocht", sagte ich." Die Pointe der Erzählung liegt darin, dass einer, der Großes will, klein gemacht wird. Antirevolutionär, en miniature.

In "Der geschlossene Laden" wird gleich zu Beginn ein Präsident an der Laterne aufgeknüpft. Zuvor hat er ein liberales Scheidungsgesetz erlassen, das es jedermann erlaubt, sich nach dreißig Tagen Abwesenheit (und gegen Gebühr) rechtskräftig und ohne vorheriges In-Kenntnis-Setzen des Partners, von diesem trennen zu lassen. Es ist das Gesetz aber nicht der Aufknüpfungsanlass, der wird nämlich gar nicht erst mitgeteilt, wohl weil das Aufknüpfen für einen Präsidenten in ungenannten amerikanischen Staaten wie diesem ein Berufsrisiko ist. Allerdings wird das Gesetz zum Problem für die drei Bordellvorsteherinnen der ungenannten Hauptstadt des ungenannten Landes. Es kommen nämlich fast nur scheidungswillige Frauen aus aller Herren Länder. Die langweilen sich erst, dann entdeckt man den Tanz als Vergnügung. Die Männer tanzen mit den zu dreißig Tagen Aufenthalt verdammten Frauen und wollen und bekommen auch mehr. Die Bordelle liegen verwaist. Die Vorsteherinnen gehen zum neuen Präsidenten, sich beschweren. "Ehescheidungen", sagt der Präsident, "bilden unseren Hauptindustriezweig und nur über meine Leiche kann das Gesetz widerrufen werden." Und doch findet der Präsident eine Lösung, die so salomonisch wie doppelmoral-katholisch ist. Die scheidungswilligen Frauen dürfen nur in Begleitung von pro forma als die ihren ausgegebenen Männern ins Land einreisen. Die pro-forma-Männer halten ihnen dann die de-facto-Einheimischen buchstäblich vom Leib. Ergo blüht aufs Neue das zuvor darniederliegende Bordellgeschäft. Der Ton der Erzählung ist unangenehm.

In "Der Bettler" hat ein Ich-Erzähler einen ehrgeizigen Plan: "Den Morgen über wollte ich faulenzen, den Nachmittag vertrödeln, den Abend verbummeln." Eine schöne Philosophie hat er dazu: "Die Zeit, weil sie so flüchtig, weil sie so unwiederbringlich ist, ist das kostbarste aller menschlichen Güter, und sie zu vergeuden, ist die raffinierteste Art von Verschwendung." Und dann hat er doch etwas Schönes und auch Sinnloses vor: "Ich wollte die gesamten Werke von Nick Carter lesen." [Das ist die erste der Erzählungen, die mich packt. Ich habe, trotz meiner Neigung zu Pulp Fiction, noch nie einen Carter-Roman gelesen.] Dann aber geht es seltsam weiter. Der Erzähler sitzt fest in Vera Cruz und bricht seine Anfangserwägungen einfach ab. Ein rothaariger Bettler von elendstem Aussehen stößt ihn ab und fesselt doch seine Aufmerksamkeit. Er kennt ihn, erinnert erst nicht, woher. Dann doch: Er hat ihn als jungen Mann kennengelernt, als einen hochfahrend ambitionierten Möchtegern-Autor. Einen Namen bekommt der Mann nicht, dafür eine gelbe Banknote, die er kommentarlos zerknüllt. Dann ist er auf Nimmerwiedersehen verschwunden und die verstörende Geschichte ist aus.

"Der Traum" ist eine Kriminalerzählung. Im Jahr 1917 hält sich der Ich-Erzähler in Russland auf, ist auf Durchreise in Wladiwostok. [Das ist nah an Maughams Biografie, er war in der Zeit als Geheimagent im vorrevolutionären Russland unterwegs. Überhaupt: Bisher sind viele der Erzähler nur auf Durchreise. Daher das Anekdotische, aber auch eine leise Unheimlichkeit. Der uns die Fakten berichtet, ist in ihnen selbst nicht zuhaus.] Ein dicker russischer Mann, wahnsinnig hässlich, sitzt mit dem Erzähler am Tisch. Er erzählt von seiner Frau, die rasend eifersüchtig gewesen sei. In ihrem Traum, erzählt sie ihm, erzählt er dem Erzähler, habe er sie mehrfach getötet durch Treppenhaus-Absturz. Eines Nachts stirbt sie dann wirklich so. Erzählt der hässliche Russe dem Erzähler. "Ich bin nie dahinter gekommen, ob seine Geschichte eine Erfindung oder ein Geständnis war."

Es handelt sich bei der Erzählung "Die Unvergleichliche" um eine Männerfantasie. Der Protagonist der Geschichte, ein Held in der dritten Person, heißt Richard Herenger und vorgestellt wird er, im ersten Satz schon, als "glücklicher Mann". Mit einem Problem: Er, von seiner Frau nicht geschieden aber getrennt lebend, sucht eine Haushälterin. Seine Ansprüche sind sehr hoch. Er sucht lange und wird dann fündig. Die Frau, die der Geschichte den Titel gibt, Mrs. Pritchard, ist in jeder Hinsicht perfekt. Ein wenig zu perfekt höchstens, man kann beinahe an eine Hofmannsche Automate denken, wenn man liest, wie sie seelenlos auf jedes I den genau richtigen Punkt setzt. Dann aber, eines Abends, ergibt es sich so, dass Mr. Herenger und Mrs. Pritchard, sie ist Witwe, gemeinsam ins Kino gehen und auch zum Tanz. Es ergibt sich auch, dass sie - in der bis dahin einzigen Leerzeile des Bandes - Sex haben miteinander. Am nächsten Morgen hat Herenger Angst, sie könnte nun Anzeichen der Vertraulichkeit zeigen, und will sie entlassen. Sie benimmt sich jedoch, als wäre nichts gewesen. Sie war ihm, selbst wollend, wie es scheint, was sie tat, zu Willen. Eine Leerzeile, aus der nichts folgt. Weitergehen kann die Geschichte eben darum nicht.

In "Des Obersten Lady" wird ein Mann vorgeführt. Seiner Frau kommt ein Paket ins Haus. Sie hat, erweist sich, einen Band mit Gedichten geschrieben. Der Oberst, kein Mann des Geistes, denkt sich gar nichts dabei. Er liest die Gedichte nicht und lobt sie doch. Dann sieht er Zeichen und es nimmt ihn wunder. Seine Frau wird berühmt, die Gedichte werden gepriesen, der Oberst bekommt es, was ihn anwidert, mit Intellektuellen zu tun. Dann liest er die Gedichte doch. Sie erweisen sich, was ihn entsetzt und mehr noch erstaunt, als autobiografisch. Seine Frau schildert in Sonetten, aber auch in unregelmäßigen Versen ohne Reim, eine leidenschaftlichen Liebesaffäre. Sie endete mit dem Tod des jüngeren Liebhabers. Für den Oberst ist seine Frau ein vertrocknetes Ding Mitte vierzig. Er begreift das alles nicht. Sein bester Freund, ein Anwalt, mit dem er sich bespricht, gibt ihm zu verstehen, dass er, was ihm geschieht, wohl verdient. Auch der Erzähler hat das durchblicken lassen. Er ist nahe dran an der Perspektive des Mannes, setzt aber kaum versteckt Signale der Distanz und der Ironie.

Zwei Männer treffen aufeinander in "Lord Mountdrago", einer Geschichte, die mir vorkommt wie eine Kreuzung aus Tschechow und Poe. Von Tschecho die Qual, die einer, der keinen Grund für sie kennen will, nicht mehr loswird. Von Poe die Hynose, die Psychologie, die Träume, in die sich der Schrecken verkriecht. Beide Männer, den Arzt und den Außenminister, stellt Maugham vor Augen. Den äußeren Menschen lernen wir kennen, dann den inneren auch. Der äußere Lord steht glänzend da, der Arzt Dr. Audlin kaum minder. Audlin heilt per Händeauflegen, weiß nur nicht, wie es zugeht und hat darum kein Vertrauen in sich selbst. Mountdrago ist brillant und in jeder moralischen Hinsicht ein arrogantes Scheusal. [In einer Verfilmung der Geschichte, die ich nicht kenne, hat Orson Welles ihn gespielt. Man kann sagen: Das passt.] Im Parlament hat er einen Labour-Abgeordneten zur Schnecke gemacht. Der verfolgt ihn nunmehr in seinen Träumen und quält den Lord in peinlichsten Lagen. Das Schlimmste: Am Tage benimmt sich der Abgeordnete Owen Griffiths (es scheint wichtig, dass er einen konkreten Namen trägt, so namenlos das Entsetzen ist, das er Mountdrago einjagt), als wüsste er, was der Lord von ihm geträumt. Gut aus geht das für beide nicht. Aber wie Maugham hier den Krieg der Klassen psychoanalysiert, das hat, gerade weil es faustdick ist, etwas Großartiges.

"Gesellschaftliche Haltung" ist ein erzählerisches Kabinettstück, ein wenig à la Balzac, aber auf knappem Raum. Ein Mann geht zu einer Gesellschaft, zu der er vier Wochen zuvor eingeladen worden ist. Dort kommt er neben einer geistreichen Frau, die Sängerin war, die mit einem mediokren Maler zu gegenseitiger Qual verheiratet ist, und die seit 25 Jahren eine leidenschaftliche Liebe mit einem unansehnlichen Kritiker und Intellektuellen verbindet. Der ist radikal frankophil und verachtet die englischen Autoren. Justament an diesem Nachmittag aber ist der Mann, die Liebe ihres Lebens, erzählt die Frau, die Sängerin war, dem eingeladenen Ich-Erzähler, gestorben. Sie reißt sich zusammen, versprüht Witz und Charme. Die eigentliche Pointe hebt sich Maugham fürs Ende auf. Über die Haltung, die der nun Verstorbene Kritiker zu der Sache eingenommen hätte, heißt es da: "'Solche Dinge', pflegte er immer zu sagen, 'verstehen die französischen Romanschriftsteller so meisterhaft zu schildern.'"

Die kurze Erzählung "Der Kirchendiener" ist dann tatsächlich ein Witz. Ein Mann, der Analphabet ist, wird vom Vikar trotz jahrelanger verlässlicher Arbeit, weil er nicht lesen und schreiben kann, als Kirchendiener gefeuert. Er macht dann ein Tabakgeschäft auf, es hat erfolgt. Er macht weitere auf, ist schnell ein wohlhabender Mann. Sein Anlageberater fällt, als er das kleine Geheimnis erfährt, aus allen Wolken. Wo wären Sie, meint er, wenn Sie nicht Analphabet wären. Und jetzt also die punchline, als letzter Satz: "Ich wäre heute Kirchendiener von St. peter, Neville Square."

"In einem fremden Land": eine Anekdote. Eine Engländerin, Witwe eines Italieners, in der Türkei. Sie betreibt ein Hotel und hält für durchreisende Landsleute eine Wärmflasche bereit. Auch hat sie zwei Kinder, die ihr verstorbener Mann, als er noch lebte, mit einer Griechin gezeugt. Die Engländerin hat sie nach dem Tod ihres Manns adoptiert und will nichts Nachteiliges über ihn sagen.

Was heute Globalisierungsgeschichten sind, waren früher Kolonialismusgeschichten. Woraus man ja auch einiges lernen kann. "Der Taipan" ist Statthalter einer bedeutenden englischen Firma in China. Jetzt geht er auf den Friedhof und freut sich, ehemalige Konkurrenten, sonst auch diesen und jenen dort bereits begraben zu sehen. Nur, für wen die beiden Chinesen, die leider nicht englisch sprechen (und er nicht chinesisch), da gerade ein Grab ausheben, das weiß er nicht. Er fragt alle danach, da ist kein Grab, sagen sie. Also eine Halluzination. Also packt ihn die Panik. "Er hasste das Land. China. Warum war er jemals hergekommen?" Am Morgen darauf ist er, sagt die deutsche Übersetzung, "mausetot".

"Der Konsul" in China ist eigen. Dem Opiumhandel hat er den Kampf angesagt, aber an der Hintertür dealt sein eigenes Hauspersonal mit der Droge. Er sammelt auch Poststempel, Hoteletiketten und Vogeleier. Eine Engländerin taucht bei ihm auf, die in England einen Chinesen, der ihr sehr falsche Tatsachen vorgespiegelt hat, heiratete. Jetzt ist da kein Palast. Jetzt ist da eine bereits existierende erste Ehefrau. Jetzt ist da eine Schwiegermutter, der sie zu gehorchen hat. Gehen Sie um Gottes Willen nach England zurück, sagt der Konsul. Will sie nicht. Sie geht zu ihrem Ehemann zurück kommt wieder. Gehen Sie. Will sie nicht. Aber warum, fragt verzweifelt der Konsul: "'Da ist etwas in der Art, wie sein Haar auf seiner Stirn wächst, das ich einfach lieben muss', antwortete sie." Ohne diesen Satz wäre die ganze Erzählung wirklich nicht sonderlich interessant. Der Satz ist fabelhaft.

"Ein Freund in Not" ist der eine Burton dem anderen Burton nicht. Mit dem Erzähler sind wir wieder in Asien unterwegs; er bekommt eine Geschichte erzählt, von einem Herrn Burton, der von einem anderen Herrn Burton berichtet. Der hat sein Geld verspielt und bittet um einen Kredit. Eine Bedingung, sagt der eine Burton zum andern. Du musst eine schwierige Strecke im Hafen schwimmen, dann habe ich eine Stelle für dich. Burton schwimmt und ertrinkt. Der überlebende Burton lächelt fein: Ich hätte keine Stelle für ihn gehabt. Der Erzähler hat seinen Bericht mit einer Meditation eröffnet über die Menschen, aus denen er, je mehr er sie kennt, desto weniger schlau wird.

Misogyne Unterströmungen gibt es in vielen dieser Geschichten. "Das runde Dutzend" aber schlägt dem Fass den Boden aus. Ort: Das Seebad Elsom. Dramatis personae: Ein Schriftsteller, der erzählt. Ein Ehepaar, das aus dem London der 1880er in die Gegenwart (40 Jahre später) gebeamt scheint. Man liest sich Dickens vor und findet Thackeray zynisch. Mit dabei: die Nichte der Frau als alte Jungfer. Auch vor Ort der Mann, der sich so vorstellt: "Ich bin der berühmte Bigamist." 11 Ehen, fünf Jahr Haft, jetzt wieder auf Beutezug. Ein Puzzleteil wird ins andere gefügt. Die Nichte brennt durch mit dem Bigamisten. So sind sie die Frauen. Geheiratet werden wollen sie, und koste es Familie, Ehre und Vermögen.