Donnerstag, 23. Juli 2009

Delphin Reiseführer: Besser Reisen

Eines dieser Bücher mit Jeans-Cover. Es ist von 1979, in den Achtzigern war das aber immer noch der letzte Schrei, glaube ich mich zu erinnern. Autor dieses Bandes ist ein Ethnologe namens Thomas Diethelm. Im Netz findet man einen Herrn gleichen Namens, der Musik macht - und in den Siebziger, schreibt er in seiner Biografie, mit Christoph Marthaler, dem damals ganz und gar unberühmten, gaukelnd und musizierend durch die Gegend zog. Ob es derselbe ist, der dieses Buch mit Reisetipps für Globetrotter verfasst hat, ist auf die Schnelle nicht zu ergründen. Schweizer jedenfalls sind sie beide.

Was ich aus dem Buch gelernt habe:

1) Ein richtig gepackter Rucksack wiegt nur halb so viel wie ein falsch gepackter.
2) "Etwas vom Wichtigsten am Rucksack ist der Hüfttragegurt."
3) Es gibt im wesentlichen drei Kammersysteme für Schlafsäcke. (Kalte Nähte: nicht zu empfehlen; Box-Kammersystem; V-Kammersystem: bestes System)
4) Je nördlicher das Herkunftsland der Daune, desto besser ist sie.
5) Ein Paar Badesandalen sind superwichtig!
6) Spanische Lederflaschen nehmen weniger Platz weg als Kunststoff-Wasserflaschen.
7) Reisen Sie entweder alleine oder zu zweit. Von Trips zu dritt ist abzuraten!
8) Autostoppen: Nachdem man eingestiegen ist, öffnet man unter dem Vorwand, dass die Jacke eingeklemmt ist, immer noch einmal die Tür, um sich für den Fall der Fälle mit dem Türmechanismus vertraut zu machen.
9) Die meisten Autofahrer haben fast krankhafte Angst vor Schmutz auf ihren Polstern.
10) Polen ist ein Paradies für Autostopper! In Reisebüros und an Grenzübergängen erhalten Tramper Autostop-Coupons. Die geben sie dem Fahrer. Am Endes Jahres können alle Fahrer mit ihren Coupons an einer Verlosung teilnehmen.
11) In der BRD (ohne Berlin) gibt es sechs Mitfahrzentralen.
12) Interrail: 1972 kostete der Pass noch DM 210.-, 1975 bereits DM 290.- und 1979 sogar DM 360.-!
13) Bei schlechten Straßenverhältnissen ist es besser, im Bus so weit vorne wie möglich zu sitzen.
14) Bei starkem Wellengang sind Kabinen in der Schiffsmitte am ruhigsten.
15) Wenn Sie gegenüber Wanzen Vorbehalte haben, sollten Sie das Bett nach solchen 'Mitbewohnern' absuche.
16) So heißt Jugendherberge auf Portugiesisch: Pousada.
17) So gibt's beispielsweise für Jugendherbergsbenützer in Großstädten praktisch kein Nachtleben, denn bevor es noch richtig beginnt, werden Herbergspforten verriegelt. (In der Schweiz und Bayern schon um 22 Uhr!)
18) In den meisten großen Kaufhäusern ißt man in der Regel noch günstiger als in den Kettenrestaurants wie McDonald's oder Wimpy.
19) Bemerkungen wie special price for you sind Bauernfängerei.
20) Gratis-Tip: Wenn Sie sich unter eine ausländische Reisegruppe mischen, können Sie sich sehr oft das Eintrittsgeld (z.B. in ein Museum) ersparen.
21) Schwarzweißfilme sind natürlich viel billiger als Farbfilme und haben noche eine Reihe anderer Vorteile: Sie sind weniger hitzeempfindlich, und bei einer entsprechenden Entwicklung können sie bis 40 DIN belichtet werden.
22) Faustregel: Überlegen Sie sich, wie viele Filme Sie brauchen, und nehmen Sie dann doppelt so viel mit.
23) Der Horizont muß entweder in der oberen oder unteren Bildhälfte sein; niemals darf er durch die Bildmitte gehen.
24) Vergessen Sie bei Landschaftsaufnahmen den Vordergrund nicht, sonst wirkt die Aufnahme langweilig.
25) Das Fotografieren von Einheimischen ist eine heikle Sache und verlangt viel Takt und Fingerspitzengefühl.
26) Bleiben Sie unter allen Umständen höflich im Umgang mit den Behörden.
27) Nordamerika. An den Toiletten-Türen kann stehen:
Men/Women
Ladies/Gentlemen
Powder Room
Comfort Room
28) Lateinamerika: Toiletten werden excusado, retrete, urinario, sanitario, inodorno und auf Portugiesisch auch banheiro genannt.
29) Asien: Man muss sich darüber im klaren sein, daß man bei Benutzung einer Fremdsprache in den meisten Ländern nur mti der gebildeten Oberschicht und mit den im Tourismus Beschäftigten in Berührung kommt.
30) Afrika: Den höchsten Kurs erzielt in allen afrikanischen Ländern die Währung der ehemaligen Kolonialmacht.
31) Übrigens: Unser Autostop-Handzeichen bedeutet in Afrika "fuck off" (Geh zum Teufel!). Statt dessen stoppen die Afrikaner Fahrzeuge, indem sie mit der Hand vertikal winken.
32) Australien: June Leute, die aus asiatischen Ländern einreisen, werden von den australischen Zollbeamten sehr sorgfältig auf Drogen untersucht.

Johannes Bobrowski: Erzählungen

Band aus der Ost-Reclam-Universalbibliothek. Ich mag diese Bücher. Schlicht, nur schwarz, nur weiß (und gelblich grau: das Papier), nur Schrift. Und hinten drauf steht DDR 1,50 M. Auf diesem jedenfalls. Wie in DDR-Büchern üblich: Das Inhaltsverzeichnis hinten; ich weiß nicht, welcher Tradition oder welchem Zufall oder welchem Tradition gewordenen Zufall sich diese Differenz verdankt. Ein Nachwort gibt es, von Bernd Leistner. Ich kenne den Namen nicht, aber das Nachwort ist zwar - wie in DDR-Nachworten üblich - so verschlüsselt, dass man auf kein einziges Wort seinen Fuß setzen zu können glaubt, ohne dabei einzubrechen; es ist auch in einem hohen Ton gehalten, in dem Bürokratisches und Hochgeistiges seltsam vermischt sind. Und doch scheint es mir nicht ideologisch verdummt. Leistner, lese ich in der Wikipedia, hat in Chemnitz noch bis 2004 einen Lehrstuhl für Literaturwissenschaft innegehabt.

Andererseits steht im Nachwort auch der folgende Satz: "Von einer solchermaßen gefestigten Position aus wird dann auch, 1964, die Geschichte des Poeten Boehlendorff erzählt, eine Geschichte, die, klar historisiert, als ein nachdenklich stimmendes Exempel einem Publikum mitgeteilt wird, dessen Ansprechbarkeit keinem Zweifel ausgesetzt erscheint und dem sich der souverän hervortretende Gegenwartserzähler vertrauensvoll und auffordernd zugleich zuwendet."

***

"Boehlendorff" ist die erste Geschichte des Bandes. Wobei man sich durchweg fragt, ob das, was hier "Erzählung" heißt, wirklich "Erzählung" ist und wirklich "Geschichte" im Sinne von "tale". Denn ein Erzähler im engeren Sinn ist der Lyriker Bobrowski nicht. Das ist nicht abwertend gemeint, denn es sind teils ganz großartige Texte, die ich hier gelesen habe. (Bis zu "Brief aus Amerika", Seite 50.) Wenn einer "souverän hervortretender Gegenwartserzähler" sagt, stelle ich mir aber etwas ganz anderes vor als die szenische Installation, als die ich "Boehlendorff" lese. Deren erster Satz lautet: "Auf diesem ungewöhnlichen Weg." Ganz richtig: Punkt. Eine Szenenanweisung, die ein Zitat ist, aus einer Anzeige des Kasimir Anton Ulrich Boehlendorff, den es wirklich gab. Ein Dichter, der nicht ins Gebirg ging, sondern in seine östliche Heimat zurückkehrte. Und im Mitauer Intelligenzblatt um Geld, einen "Kreditbrief über einhundert Taler" genau gesagt, bettelte.

Ihn lässt die Erzählung, in Szenen, in Fetzen, in Dialogen, in Wiederholungsschleifen ("Zählen zählt alles") erst elend leben, dann sterben. An "Lenz" muss man denken. Namen sind wichtig. Leute, denen er begegnet, historisch verbürgt allesamt, denkt man. Alles ganz genau lokalisiert und situiert, aber wie ein Geist geht Boehlendorff durch diese Welt, wie ein Geist, dessen Bewegung Bobrowski vom ersten Satz an einschreibt: Sie wird enden. Boehlendorff war ein Dichter, Autor von Dramen, anderen Texten, nicht aufgeführt, ohne Erfolg. Er zog aus, die Welt zu erobern und kehrt, da erwischt ihn Bobrowski ("nachdenklich stimmendes Exempel"), gescheitert zurück. Er hofmeistert herum, wird angesprochen, scheint in diesem Text, der mit seinen dreizehn Seiten einer der längsten im Buch ist, nicht mehr antworten zu können. Das Schweigen des Boehlendorff liegt über den Fetzen, den Namen, dem Gehen, dem Gesagten.

In "Junger Herr am Fenster" erhängt sich Schopenhauers Vater, was ich aber nur begreife, weil der Kommentar - ein kleiner Apparat am Ende des Buchs - es verrät. Ganz kurzer Text, eine Einkreisbewegung, oder eher: ein Vor und Zurück wie ein Kamerazoom, auf den Giebel, auf den der Ich-Erzähler, der also Schopenhauer ist oder wäre, wieder und wieder, vor- und zurückkommt.

Eine Szene, die sich mit Welt und Geschichte füllt, schildert "D.B.H." Die Initialen stehen für Dietrich Buxtehude, den Komponisten. Er steht "hinter dem Prospekt, mitten in seiner Orgel". Von hier denkt er, nach vorne, er denkt auch zurück. Bewegung auf der Szene als Prinzip des Bobrowskischen Erzählens: darum wahrscheinlich diese Assoziation mit dem Installativen; etwas, einer wird da hingesetzt, hingestellt und der großartigen Sprache Bobrowskis überlassen. Einer Sprache, die in kurzen, aber nicht hektischen Rhythmen Landschaften entwirft, szenisch. Aus den Konkretionsreihen entsteht ein rhythmisiertes Bild aus Fragmenten; es schließt sich nicht.

Ein paar Worte zu "Epitaph für Pinnau" noch. Fast etwas wie ein Musterbeispiel von Ekphrasis; ein Gemälde, das zu Leben erweckt wird. Tischgesellschaft bei Kant, in Königsberg. Hamann ist zu Besuch. Aber am Anfang nähert sich erst etwas, man wird in die "Erzählung", die eine Inszenierung ist, hineingeführt wie von einer Assistenzfigur in der Malerei. Oder, man muss genauer sein: Erst wird das Bild gemalt: "Vor Kants Haus steht kein Baum." Dann kommt Ton dazu. Und die Assistenzfigur ist rein akustisch. Das sind "Stöcke", die man, sich nähernd, beinahe wirklich hört, über eine London- und eine Swedenborg-Assoziation hinweg hört. Oder vielleicht, weil sich der Text hier gleich für eine Assoziation öffnet, lässt sich auch das Hören der Stöcke ungenannter sich nähernder Personen so leicht herbeiassoziieren: "Aber jetzt nähern sich die ungeduldigen Stöcke und werden zu laut. Es ist eine Plage mit den Stöcken." Ungeduldig sind sie. Erlebt, denkt man ist die Rede. Er ist unklar, wer hier spricht. Vielleicht Kant. Und: Es hat sich schon wieder einer erschossen. Pinnau diesmal. Ein Epitaph für ihn ist diese Erzählung.

Freitag, 17. Juli 2009

W. Somerset Maugham: Lord Mountdrago

Das Buch ist angeschlagen, abgewetzt an der Rückseite, geknickt vorne und hinten. Vorne drauf sieht man vor dunkeltürkisem Hintergrund eine schwarze Brücke, auf der ein schwarzer Zug fährt, der dunklen, vom Schwarzen ins Türkise nach oben ausdünnenden Rauch ausstößt, der nach hinten zu aufquillt. Außerdem fallen von der Brücke oder aus dem Zug weiße Blätter zu Boden.

In einem Blurb auf der Rückseite wird der Spiegel zitiert, der Maugham für die eigene Avantgardefeindlichkeit vereinnahmt: "An diesem Überbleibsel aus einer Zeit, da 'Geschichtenerzählen' und 'Literatur', da 'Kunst' und 'Unterhaltung noch nicht geschiedene Begriffe waren, bleibt beispielhaft: die nie ermüdende Lebensneugier des Schriftstellers und einstigen Arztes Maugham - Exempel für heutige Literatur-Bastler, die ihre Unlust oder Unfähigkeit, Mitmenschen zu schildern, als Avantgardismus verklären."

***

In der ersten Erzählung, "Der Mann mit der Narbe", wird ein nicaraguanischer Revolutionär nicht hingerichtet, weil er die Frau, die er liebt, am Tag, an dem er sterben soll, tötet. Die Narbe des Titels ist ein Witz. Sie scheint das Geheimnis des Mannes zu sein, der dem Ich-Erzähler als heruntergekommener Lotterielosverkäufer begegnet. Es ist daran nichts mysteriös. "Ach, die hat er sich geholt, als einmal eine Flasche explodierte, die er gerade öffnen wollte. Es war eine Flasche Ingwerbier." "Ingwerbier? Habe ich nie gemocht", sagte ich." Die Pointe der Erzählung liegt darin, dass einer, der Großes will, klein gemacht wird. Antirevolutionär, en miniature.

In "Der geschlossene Laden" wird gleich zu Beginn ein Präsident an der Laterne aufgeknüpft. Zuvor hat er ein liberales Scheidungsgesetz erlassen, das es jedermann erlaubt, sich nach dreißig Tagen Abwesenheit (und gegen Gebühr) rechtskräftig und ohne vorheriges In-Kenntnis-Setzen des Partners, von diesem trennen zu lassen. Es ist das Gesetz aber nicht der Aufknüpfungsanlass, der wird nämlich gar nicht erst mitgeteilt, wohl weil das Aufknüpfen für einen Präsidenten in ungenannten amerikanischen Staaten wie diesem ein Berufsrisiko ist. Allerdings wird das Gesetz zum Problem für die drei Bordellvorsteherinnen der ungenannten Hauptstadt des ungenannten Landes. Es kommen nämlich fast nur scheidungswillige Frauen aus aller Herren Länder. Die langweilen sich erst, dann entdeckt man den Tanz als Vergnügung. Die Männer tanzen mit den zu dreißig Tagen Aufenthalt verdammten Frauen und wollen und bekommen auch mehr. Die Bordelle liegen verwaist. Die Vorsteherinnen gehen zum neuen Präsidenten, sich beschweren. "Ehescheidungen", sagt der Präsident, "bilden unseren Hauptindustriezweig und nur über meine Leiche kann das Gesetz widerrufen werden." Und doch findet der Präsident eine Lösung, die so salomonisch wie doppelmoral-katholisch ist. Die scheidungswilligen Frauen dürfen nur in Begleitung von pro forma als die ihren ausgegebenen Männern ins Land einreisen. Die pro-forma-Männer halten ihnen dann die de-facto-Einheimischen buchstäblich vom Leib. Ergo blüht aufs Neue das zuvor darniederliegende Bordellgeschäft. Der Ton der Erzählung ist unangenehm.

In "Der Bettler" hat ein Ich-Erzähler einen ehrgeizigen Plan: "Den Morgen über wollte ich faulenzen, den Nachmittag vertrödeln, den Abend verbummeln." Eine schöne Philosophie hat er dazu: "Die Zeit, weil sie so flüchtig, weil sie so unwiederbringlich ist, ist das kostbarste aller menschlichen Güter, und sie zu vergeuden, ist die raffinierteste Art von Verschwendung." Und dann hat er doch etwas Schönes und auch Sinnloses vor: "Ich wollte die gesamten Werke von Nick Carter lesen." [Das ist die erste der Erzählungen, die mich packt. Ich habe, trotz meiner Neigung zu Pulp Fiction, noch nie einen Carter-Roman gelesen.] Dann aber geht es seltsam weiter. Der Erzähler sitzt fest in Vera Cruz und bricht seine Anfangserwägungen einfach ab. Ein rothaariger Bettler von elendstem Aussehen stößt ihn ab und fesselt doch seine Aufmerksamkeit. Er kennt ihn, erinnert erst nicht, woher. Dann doch: Er hat ihn als jungen Mann kennengelernt, als einen hochfahrend ambitionierten Möchtegern-Autor. Einen Namen bekommt der Mann nicht, dafür eine gelbe Banknote, die er kommentarlos zerknüllt. Dann ist er auf Nimmerwiedersehen verschwunden und die verstörende Geschichte ist aus.

"Der Traum" ist eine Kriminalerzählung. Im Jahr 1917 hält sich der Ich-Erzähler in Russland auf, ist auf Durchreise in Wladiwostok. [Das ist nah an Maughams Biografie, er war in der Zeit als Geheimagent im vorrevolutionären Russland unterwegs. Überhaupt: Bisher sind viele der Erzähler nur auf Durchreise. Daher das Anekdotische, aber auch eine leise Unheimlichkeit. Der uns die Fakten berichtet, ist in ihnen selbst nicht zuhaus.] Ein dicker russischer Mann, wahnsinnig hässlich, sitzt mit dem Erzähler am Tisch. Er erzählt von seiner Frau, die rasend eifersüchtig gewesen sei. In ihrem Traum, erzählt sie ihm, erzählt er dem Erzähler, habe er sie mehrfach getötet durch Treppenhaus-Absturz. Eines Nachts stirbt sie dann wirklich so. Erzählt der hässliche Russe dem Erzähler. "Ich bin nie dahinter gekommen, ob seine Geschichte eine Erfindung oder ein Geständnis war."

Es handelt sich bei der Erzählung "Die Unvergleichliche" um eine Männerfantasie. Der Protagonist der Geschichte, ein Held in der dritten Person, heißt Richard Herenger und vorgestellt wird er, im ersten Satz schon, als "glücklicher Mann". Mit einem Problem: Er, von seiner Frau nicht geschieden aber getrennt lebend, sucht eine Haushälterin. Seine Ansprüche sind sehr hoch. Er sucht lange und wird dann fündig. Die Frau, die der Geschichte den Titel gibt, Mrs. Pritchard, ist in jeder Hinsicht perfekt. Ein wenig zu perfekt höchstens, man kann beinahe an eine Hofmannsche Automate denken, wenn man liest, wie sie seelenlos auf jedes I den genau richtigen Punkt setzt. Dann aber, eines Abends, ergibt es sich so, dass Mr. Herenger und Mrs. Pritchard, sie ist Witwe, gemeinsam ins Kino gehen und auch zum Tanz. Es ergibt sich auch, dass sie - in der bis dahin einzigen Leerzeile des Bandes - Sex haben miteinander. Am nächsten Morgen hat Herenger Angst, sie könnte nun Anzeichen der Vertraulichkeit zeigen, und will sie entlassen. Sie benimmt sich jedoch, als wäre nichts gewesen. Sie war ihm, selbst wollend, wie es scheint, was sie tat, zu Willen. Eine Leerzeile, aus der nichts folgt. Weitergehen kann die Geschichte eben darum nicht.

In "Des Obersten Lady" wird ein Mann vorgeführt. Seiner Frau kommt ein Paket ins Haus. Sie hat, erweist sich, einen Band mit Gedichten geschrieben. Der Oberst, kein Mann des Geistes, denkt sich gar nichts dabei. Er liest die Gedichte nicht und lobt sie doch. Dann sieht er Zeichen und es nimmt ihn wunder. Seine Frau wird berühmt, die Gedichte werden gepriesen, der Oberst bekommt es, was ihn anwidert, mit Intellektuellen zu tun. Dann liest er die Gedichte doch. Sie erweisen sich, was ihn entsetzt und mehr noch erstaunt, als autobiografisch. Seine Frau schildert in Sonetten, aber auch in unregelmäßigen Versen ohne Reim, eine leidenschaftlichen Liebesaffäre. Sie endete mit dem Tod des jüngeren Liebhabers. Für den Oberst ist seine Frau ein vertrocknetes Ding Mitte vierzig. Er begreift das alles nicht. Sein bester Freund, ein Anwalt, mit dem er sich bespricht, gibt ihm zu verstehen, dass er, was ihm geschieht, wohl verdient. Auch der Erzähler hat das durchblicken lassen. Er ist nahe dran an der Perspektive des Mannes, setzt aber kaum versteckt Signale der Distanz und der Ironie.

Zwei Männer treffen aufeinander in "Lord Mountdrago", einer Geschichte, die mir vorkommt wie eine Kreuzung aus Tschechow und Poe. Von Tschecho die Qual, die einer, der keinen Grund für sie kennen will, nicht mehr loswird. Von Poe die Hynose, die Psychologie, die Träume, in die sich der Schrecken verkriecht. Beide Männer, den Arzt und den Außenminister, stellt Maugham vor Augen. Den äußeren Menschen lernen wir kennen, dann den inneren auch. Der äußere Lord steht glänzend da, der Arzt Dr. Audlin kaum minder. Audlin heilt per Händeauflegen, weiß nur nicht, wie es zugeht und hat darum kein Vertrauen in sich selbst. Mountdrago ist brillant und in jeder moralischen Hinsicht ein arrogantes Scheusal. [In einer Verfilmung der Geschichte, die ich nicht kenne, hat Orson Welles ihn gespielt. Man kann sagen: Das passt.] Im Parlament hat er einen Labour-Abgeordneten zur Schnecke gemacht. Der verfolgt ihn nunmehr in seinen Träumen und quält den Lord in peinlichsten Lagen. Das Schlimmste: Am Tage benimmt sich der Abgeordnete Owen Griffiths (es scheint wichtig, dass er einen konkreten Namen trägt, so namenlos das Entsetzen ist, das er Mountdrago einjagt), als wüsste er, was der Lord von ihm geträumt. Gut aus geht das für beide nicht. Aber wie Maugham hier den Krieg der Klassen psychoanalysiert, das hat, gerade weil es faustdick ist, etwas Großartiges.

"Gesellschaftliche Haltung" ist ein erzählerisches Kabinettstück, ein wenig à la Balzac, aber auf knappem Raum. Ein Mann geht zu einer Gesellschaft, zu der er vier Wochen zuvor eingeladen worden ist. Dort kommt er neben einer geistreichen Frau, die Sängerin war, die mit einem mediokren Maler zu gegenseitiger Qual verheiratet ist, und die seit 25 Jahren eine leidenschaftliche Liebe mit einem unansehnlichen Kritiker und Intellektuellen verbindet. Der ist radikal frankophil und verachtet die englischen Autoren. Justament an diesem Nachmittag aber ist der Mann, die Liebe ihres Lebens, erzählt die Frau, die Sängerin war, dem eingeladenen Ich-Erzähler, gestorben. Sie reißt sich zusammen, versprüht Witz und Charme. Die eigentliche Pointe hebt sich Maugham fürs Ende auf. Über die Haltung, die der nun Verstorbene Kritiker zu der Sache eingenommen hätte, heißt es da: "'Solche Dinge', pflegte er immer zu sagen, 'verstehen die französischen Romanschriftsteller so meisterhaft zu schildern.'"

Die kurze Erzählung "Der Kirchendiener" ist dann tatsächlich ein Witz. Ein Mann, der Analphabet ist, wird vom Vikar trotz jahrelanger verlässlicher Arbeit, weil er nicht lesen und schreiben kann, als Kirchendiener gefeuert. Er macht dann ein Tabakgeschäft auf, es hat erfolgt. Er macht weitere auf, ist schnell ein wohlhabender Mann. Sein Anlageberater fällt, als er das kleine Geheimnis erfährt, aus allen Wolken. Wo wären Sie, meint er, wenn Sie nicht Analphabet wären. Und jetzt also die punchline, als letzter Satz: "Ich wäre heute Kirchendiener von St. peter, Neville Square."

"In einem fremden Land": eine Anekdote. Eine Engländerin, Witwe eines Italieners, in der Türkei. Sie betreibt ein Hotel und hält für durchreisende Landsleute eine Wärmflasche bereit. Auch hat sie zwei Kinder, die ihr verstorbener Mann, als er noch lebte, mit einer Griechin gezeugt. Die Engländerin hat sie nach dem Tod ihres Manns adoptiert und will nichts Nachteiliges über ihn sagen.

Was heute Globalisierungsgeschichten sind, waren früher Kolonialismusgeschichten. Woraus man ja auch einiges lernen kann. "Der Taipan" ist Statthalter einer bedeutenden englischen Firma in China. Jetzt geht er auf den Friedhof und freut sich, ehemalige Konkurrenten, sonst auch diesen und jenen dort bereits begraben zu sehen. Nur, für wen die beiden Chinesen, die leider nicht englisch sprechen (und er nicht chinesisch), da gerade ein Grab ausheben, das weiß er nicht. Er fragt alle danach, da ist kein Grab, sagen sie. Also eine Halluzination. Also packt ihn die Panik. "Er hasste das Land. China. Warum war er jemals hergekommen?" Am Morgen darauf ist er, sagt die deutsche Übersetzung, "mausetot".

"Der Konsul" in China ist eigen. Dem Opiumhandel hat er den Kampf angesagt, aber an der Hintertür dealt sein eigenes Hauspersonal mit der Droge. Er sammelt auch Poststempel, Hoteletiketten und Vogeleier. Eine Engländerin taucht bei ihm auf, die in England einen Chinesen, der ihr sehr falsche Tatsachen vorgespiegelt hat, heiratete. Jetzt ist da kein Palast. Jetzt ist da eine bereits existierende erste Ehefrau. Jetzt ist da eine Schwiegermutter, der sie zu gehorchen hat. Gehen Sie um Gottes Willen nach England zurück, sagt der Konsul. Will sie nicht. Sie geht zu ihrem Ehemann zurück kommt wieder. Gehen Sie. Will sie nicht. Aber warum, fragt verzweifelt der Konsul: "'Da ist etwas in der Art, wie sein Haar auf seiner Stirn wächst, das ich einfach lieben muss', antwortete sie." Ohne diesen Satz wäre die ganze Erzählung wirklich nicht sonderlich interessant. Der Satz ist fabelhaft.

"Ein Freund in Not" ist der eine Burton dem anderen Burton nicht. Mit dem Erzähler sind wir wieder in Asien unterwegs; er bekommt eine Geschichte erzählt, von einem Herrn Burton, der von einem anderen Herrn Burton berichtet. Der hat sein Geld verspielt und bittet um einen Kredit. Eine Bedingung, sagt der eine Burton zum andern. Du musst eine schwierige Strecke im Hafen schwimmen, dann habe ich eine Stelle für dich. Burton schwimmt und ertrinkt. Der überlebende Burton lächelt fein: Ich hätte keine Stelle für ihn gehabt. Der Erzähler hat seinen Bericht mit einer Meditation eröffnet über die Menschen, aus denen er, je mehr er sie kennt, desto weniger schlau wird.

Misogyne Unterströmungen gibt es in vielen dieser Geschichten. "Das runde Dutzend" aber schlägt dem Fass den Boden aus. Ort: Das Seebad Elsom. Dramatis personae: Ein Schriftsteller, der erzählt. Ein Ehepaar, das aus dem London der 1880er in die Gegenwart (40 Jahre später) gebeamt scheint. Man liest sich Dickens vor und findet Thackeray zynisch. Mit dabei: die Nichte der Frau als alte Jungfer. Auch vor Ort der Mann, der sich so vorstellt: "Ich bin der berühmte Bigamist." 11 Ehen, fünf Jahr Haft, jetzt wieder auf Beutezug. Ein Puzzleteil wird ins andere gefügt. Die Nichte brennt durch mit dem Bigamisten. So sind sie die Frauen. Geheiratet werden wollen sie, und koste es Familie, Ehre und Vermögen.